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3. Die Integration der Sozialbürger

Die Lektüre des Maastrichtvertrages hinterläßt den Eindruck, es handele sich um die Schaffung eines neuen Wohlfahtsstaates. Art. 123 konstituierte einen Sozialfonds. Die deutsche Obsession mit "gleichen"-und seit der Vereinigung nur noch "gleichwertigen"-Lebensverhältnissen ging in den Art. 117 ein, wo von der "Harmonisierung des Lebensstandards" die Rede ist. Es ist wahrscheinlich, daß egalitäre Traditionen in Europa niemals dauerhaft so große Differenzen in den sozialen Tranfers zulassen, wie sie in den USA bestehen.

Die EU wurde in den siebziger Jahren als "Supermarkt" von links kritisiert. Die wirklichen Fusionen kamen erst in den neunziger Jahren und sie waren eher schwächer als die Zusammenschlüsse, die über Europa hinaus reichten. Eine einheitliche Lohnpolitik erwarten die Experten nicht (Joerges 1991:283) von der Maastricht-Runde. Die ersten Protestaktionen in romanischen Ländern zeigten, daß viele Verschlechterungen gern der Euro-Bank und indirekt der Bundesbank angelastet werden.

Eine positive Verflechtung der Souveränität, bei der die europäische Ebene weite Materien der Sozialpolitik regeln kann, ist als kontinuierlicher Prozeß bisher nicht in Sicht. Wellen des nationalen Rufes nach mehr Souveränität für die nationalen Entscheidungsträger sind wahrscheinlich Die französischen Initiativen der Arbeitslosenverbände sind vermutlich nur die Vorschau auf populistische Tendenzen zur Resouveränisierung im Bereich der Wohlfahrtspolitik. Die Europaliteratur ist sich über die Szenarien für die zukünftige Entwicklung uneins. Paradoxerweise sind die eher "linken" Autoren, wie Leibfried und Offe, an mehr europäischer Integrationspolitik im sozialen Bereich interessiert. Das wird verständlich, wenn man bedenkt, daß sie der EU eher eine parteienneutrale Innovationspolitik ohne zahlreiche Rücksichten auf national gewachsene Strukturen zutrauen als dem Nationalstaat. Eine Studie kommt im Gegensatz zu zahlreichen bisherigen Meinungen zu dem Schluß, daß Parteipolitik in der Willensbildung der Kommission eine ganz untergeordnete Rolle spielt (Morgan & Tame 1996; Landfried 2001). Die Autoren des Mainstreams auf der anderen Seite sind eher der Ansicht, daß der Kernbereich der distributiven Sozialpolitik, Erziehung und Kultur eine nationalstaatliche Domäne bleiben wird. "Verfassungspatriotisch" eingestellte Autoren (Nassehi & Schroer 1999:111) sind mit Recht der Meinung, daß nur durch Ausbau der Wohlfahrtspolitik eine De-Ethnisierung Europas dauerhaft zu bewerkstelligen ist. Welches Szenario sich in Zukunft auch als das wahrscheinlichere erweist, es besteht schon jetzt kein Zweifel, daß Prozesse oberhalb und unterhalb nationaler Systeme den Entscheidungsspielraum nationaler Parlamente einengen. Umstritten sind nur die Sektoren und die Geschwindigkeit, in der diese Prozesse ablaufen:

a) In einem Prozeß der Regionalisierung versuchen regionale Versammlungen sich auf Kosten der nationalen Parlamente über die Regionalpolitik der EU zu stärken.

b) In einem Prozeß der Europäisierung werden immer mehr Materien, die den nationalen Parlamenten vorbehalten schienen, von Europa her geregelt. Dieser Prozeß wird durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und die schleichende Vereinheitlichung der Rechtssysteme unmerklich aber wirksam befördert.

c) In einem Prozeß der Globalisierung bleibt der nationalen Ebene nur der Trost, daß weltweite Organisationen, wie die World Trade Organisation oder die GATT der EU heimzuzahlen beginnen, was diese den nationalen Entscheidungsgremien angetan haben, weil zunehmend auch der Handlungsspielraum der Europaorganisationen von der globalen Ebene eingeengt wird, wenn auch bisher stark sektoral begrenzt.

Der Konflikt um das Ausmaß, indem die sozialpolitische Kompetenz den nationalen Parlamenten entzogen wird, kann nur durch Unterklassifikationen geschlichtet werden. Die einen weisen auf die Wirkungen der Vereinheitlichung der Betriebsverfassungen und der Mitbestimmungsregelungen hin. Andere grenzen die bloß "sozialregulativen" Maßnahmen von den distributiven und redistributiven Maßnahmen ab. Erstere sind durch die Einheitliche Europäische Akte mit Art. 100a und 118a zweifellos stärker europäisiert worden. Zu den sozialregulativen Bereichen kann auch der Umweltschutz im Titel VII gerechnet werden, der europäisierte, wo die alte EG sich auf bloße Förderung der intergouvernementalen Kooperation beschränkte. Die Einbeziehung der Arbeitsumwelt, der Gesundheit, des Verbraucher- und Umweltschutzes entzieht den nationalen Parlamenten wichtige Materien (Majone 1996).

Dennoch sprechen gewichtige Gründe für die Annahme, daß der Kernbereich des Wohlfahrtsstaats noch lange national reguliert werden wird. Das Vorbild von echten Föderationen mit weitreichender Kompetenz der Mitgliedstaaten, die keine "unitarischen Bundesstaaten" wurden, wie Deutschland oder Österreich, zeigte am Modell Amerika, daß die Beharrungsfähigkeit regionaler Differenzen groß ist. Noch 1990 zahlte Kalifornien an Wohlfahrtsempfänger sechsmal mehr als das arme Alabama. Wenn es alten Nationalstaaten nicht gelang, den Wohlfahrtsstaat auf Staatenebene zu homogenisieren, so ist es unwahrscheinlich, daß die EU darin erfolgreicher sein kann. Sie hat nur 4 Prozent der Ausgaben aller nationalen Regierungen und weniger als 1,3% des Bruttosozialproduktes der EU zur Verfügung. Angesichts der budgetären Restriktionen ist es unwahrscheinlich, daß die Nationalstaaten die Knappheit an Mitteln für die Verteilungspolitik wirklich ändern wollen. Die Erfolge einer Form von Umverteilungspolitik-als Regionalpolitik-gelten bisher nicht so beeindruckend, daß sie eine Sogwirkung auf die Wohlfahrtspolitik im allgemeinen ausüben könnten. Neben der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird daher die Sozialpolitik vermutlich weiterhin ein Pfeiler der Entscheidungskompetenz nationaler Parlamente bleiben.

Der Ausbau der Sozialbürgerschaft wird auf die Dauer vermutlich die schärfsten Konflikte auslösen, da die EU zur Zeit eher auf dem Markt als auf die nationalen staatlichen Institutionen vertraut (Jachtenfuchs & Kohler-Koch 1996a:29). Die Nationalstaaten werden dadurch gezwungen, sich in Materien einzumischen, die sie lieber ungeregelt gelassen hätten. Umgekehrt wird die positive Integration durch Initiativen aus Brüssel, die hinter der nationalen Gesetzgebungsinitiative stehen, vorangetrieben und vielfach als Fremdbestimmung empfunden. Das kommt im Sozialbereich nach deutscher Zählung noch unter 10% vor; während in der Landwirtschaft schon 42% hinter deutschen Initiativen im Bundestag standen und im Post- und Fernmeldewesen bereits 100% Euro-Initiativen (Töller 1995:47).


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