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2. Kompetenzverteilung

Immer wieder wird auf die unklaren Zuständigkeitsregeln hingewiesen. Der gegenwärtige Zustand ist in der Tat weder systematisch geordnet noch mit eindeutigen Abgrenzungen versehen. Die Kompetenzen der EU haben sich aus Einzelermächtigungen durch den Ministerrat oder den Europäischen Rat ergeben, sind im Laufe der Zeit durch die Kommission ausgefüllt und erweitert und durch den EuGH bestätigt worden. Das jüngste Urteil des EuGH, mit dem das durch eine EU-Richtlinie ausgesprochene Verbot der Tabakwerbung aufgehoben wurde, zeigt die Problematik der Kompetenzverteilung. Das Gericht sah in der Richtlinie keinen unmittelbaren Bezug zu den Grundfreiheiten des Binnenmarktes und zur Wettbewerbssicherung; deswegen sei sie aufzuheben. Es folgte insoweit einer strengen Interpretation der Zuständigkeit der EU für die Ausgestaltung des Binnenmarktes. Das Gericht folgte nicht dem Argument der klagenden Bundesregierung, die Kommission dürfe nicht in den Bereich der Gesundheitspolitik eingreifen; es bejahte auch gesundheitspolitische Maßnahmen der Kommission, sofern sie sich direkt auf die Ausgestaltung des Binnenmarktes richteten. Diese, auf ein bestimmtes politisches Ziel bezogene funktionale Kompetenzbestimmung lässt keine klare Kompetenztrennung nach großen Politikbereichen zu. Die größten Eingriffsrechte hat die Kommission daher über das von ihr verwaltete Wettbewerbsrecht, über das zahlreiche Sachverhalte betroffen werden können, solange sich daraus eine Wettbewerbsverzerrung konstruieren lässt. Über die Grundfreiheiten des Binnenmarktes und das Wettbewerbsgebot hat die EU breite Eingriffsrechte gegen die nationale Gesetzgebung auch auf den Gebieten der Bildungspolitik, der Sozialpolitik und der Strukturpolitik. Im Ergebnis besteht eine scharfe, in diesem Ausmaß bisher unbekannte Isolierung einer Teilordnung, der Binnenmarktordnung, mit Rationalitätskriterien, die sich gegen andere Rationalitätskriterien, die für den gleichen Sachverhalt Geltung beanspruchen, durchsetzen. In diesem Sinne urteilte der EuGH auch, dass Frauen in der Bundeswehr nicht vom Dienst mit der Waffe ausgeschlossen werden dürften, weil dies eine im Binnenmarkt verbotene Diskriminierung bedeute. Dem entgegenstehende Wertvorstellungen über die Beteiligung von Frauen an Kampfeinsätzen mit sogar verfassungsrechtlicher Fundierung wie in der Bundesrepublik spielen keine Rolle. Die EU-Kompetenz ist eine segmentäre mit weitgehender Externalisierung der Kontingenzen. Darin liegt die Wirkungskraft der EU. Sie entscheidet zielbezogen, politische Kontexte auflösend, mit direkter Wirkung auf das Rechts-Justiz-System der Mitgliedsländer.

Bei dieser Ausgangslage ist eine eindeutige Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten schwierig. Nicht Politikfelder können verteilt werden; es handelt sich um die Spezifizierung von Geltungsbereichen von Rationalitätskriterien mit je eigenen Funktionslogiken, die in verschiedene Politikfelder ausstrahlen. Die EU schneidet aus den prinzipiell interdependent wirkenden Politikfeldern spezifische Sachverhalte heraus und unterwirft sie einem supranationalen Gestaltungsauftrag. War dies am Anfang noch ein relativ leicht isolierbarer Wirtschaftszweig, die Kohle- und Stahlindustrie, so ergreift die EU jetzt große Teile des Wirtschafts-, des Wettbewerbs- und Freizügigkeitsrechts. Diese Verselbständigung bestimmter Teilordnungen hat zu der raschen Durchsetzung des Binnenmarktes und nationaler Deregulierung geführt. Insoweit die "Wirtschaft" in den Mitgliedstaaten als ein relativ eigenständiger Politikbereich institutionalisiert ist, war dafür die Akzeptanz gegeben. Anders wäre es vermutlich gewesen, wenn es sich um die Sozialgesetzgebung oder das Steuerrecht gehandelt hätte, die keine vergleichbare "instrumentelle" Isolierung in der politischen Wahrnehmung haben.

Immer wieder wird eine Kompetenzverteilung nach Politikfeldern gefordert. Dabei wird der EU etwa die Außen- und Sicherheitspolitik, die Regulierung von Binnenmarkt, Wettbewerb und Agrarmarkt, die Asyl- und Einwanderungspolitik, auch die grenzüberschreitende Umweltpolitik und die Förderung der europäischen Spitzenforschung zugewiesen. Bei den Mitgliedstaaten sollen die Beschäftigungspolitik, die Daseinsvorsorge, Gesundheit, Kultur und Strukturpolitik bleiben. Solche Vorschläge des bayerischen Ministerpräsidenten sind plausibel, doch schwer umsetzbar, es eröffnen sich breite Überschneidungen. Insbesondere die Forderung, ein europäische Sozialmodell herauszuarbeiten und neben der Markt- und Wettbewerbspolitik als zweite Legitimationsgrundlage auszubauen, lässt die Abgrenzungen verschwimmen. Auch der durch die Währungsunion und die Europäische Zentralbank erforderlich werdende "makroökonomische Dialog" überschreitet eine Politikfeldaufteilung. Die Koordination der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten umfasst nicht nur die Haushaltsdisziplin der Nationalstaaten, sondern auch deren Beschäftigungs- und Lohnpolitik. Die für die Bundesrepublik charakteristische Politikverflechtung bestimmt auch die Verflechtung der europäischen und der nationalstaatlichen Kompetenzen. Ein Blick auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik zeigt die Schwierigkeiten bei einer Kompetenzaufteilung in Föderativsystemen mit einer breiten Rahmenkompetenz der Bundesebene. Alles, was auf der EU-Ebene beklagt wird, ist deutscher Alltag: die Verflechtung von Verwaltungsstäben und die mangelnde Transparenz, die Ausdünnung der parlamentarischen Beschlusskompetenzen, die mangelnde Zurechnungsfähigkeit von politischer Verantwortung in der Politikverflechtung.

Es muss schon verwundern, wie immer wieder eine Kompetenzverteilung gefordert wird, ohne die damit verbundenen Probleme beim Namen zu nennen. Dazu gehört insbesondere die Problematik der Finanzverfassung einer ins Auge gefassten Konföderation. Die wirksamste Kompetenzkontrolle der EU besteht heute in den von den Mitgliedstaaten zu beschließenden Zahlungen an die Union. Solange diese niedrig gehalten werden, kann die EU keine großen verteilungspolitischen Projekte betreiben und bleibt daher primär auf die Regulierungspolitik verwiesen.

Im übrigen ist auch der viel berufene Grundsatz der Subsidiarität kein wirksames Mittel der Kompetenzverteilung. Auf welcher Ebene eine politische Maßnahme angesiedelt werden soll, ist unter den Kriterien der Subsidiarität stets eine kontrovers debattierbare Zweckmäßigkeitsfrage, die sich für die einzelnen Mitgliedstaaten auch durchaus unterschiedlich stellen mag. Im Konfliktfall gibt es zur Entscheidung der Subsidiaritätsfrage keine operationalisierten Kriterien. Auch fehlt es an klaren Anspruchsgrundlagen, um seitens eines einzelnen Mitgliedstaates gegen eine EU-Verordnung vorgehen zu können.

Das schwierige Problem liegt in der Aufteilung von Rationalitätskriterien und deren Zuordnung auf verschiedene Steuerungs- und Legitimationsebenen. Soweit diese im Fall des Binnenmarktes und der Wettbewerbsordnung relativ instrumentell aus dem Politikverbund herausgelöst werden können und für die Mitgliedstaaten eine gleichartige Wirkung haben, ist eine Kompetenzfragmentierung möglich. Verbleibt den Mitgliedsländern bei der Umsetzung ein Gestaltungsspielraum, können auch die Kontingenzen abgefedert werden. Soweit aber die Zahl und die Heterogenität der Rationalitätskriterien für die EU-Politik zunehmen, also etwa die Struktur- und Beschäftigungspolitik umfassen, entstehen komplizierte Vermittlungs- und Abwägungsprobleme. Die Gegensätzlichkeit der Rationalitätskriterien und die zwischen ihnen bestehenden Konflikte müssen dann zentral gesteuert werden; sie lassen sich nicht mehr durch Fragmentierung nebeneinander von verschiedenen Steuerungsebenen gestalten. Die Vermittlung von gleichrangigen Rationalitätskriterien und ihre Geltungsabwägung erfolgt in parlamentarischen Systemen durch Mehrheitsentscheidungen und Haushaltsbeschlüsse. Es entsteht die Forderung, die Kompetenz-Kompetenz auf die Ebene der "Föderation" zu übertragen. Insofern sind die Vorschläge von Fischer in sich konsistent: "die Kernsouveränität und nur das unbedingt notwendig europäisch zu Regelnde (sollte) der Föderation übertragen (werden)", und die europäische Gesetzgebung solle voll parlamentarisiert werden. Doch das bedeutet über die Frage der Kompetenzverteilung hinaus eine Souveränitätsteilung.


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