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4. Die Rolle der Nationalstaaten

Der Nationalstaat soll nicht "abgeschafft" werden, er soll in die Konföderation "mitgenommen" werden, denn der "Nationalstaat mit seinen kulturellen und demokratischen Traditionen (wird) unersetzlich sein, um eine von den Menschen in vollem Umfang akzeptierte Bürger- und Staatenunion zu legitimieren". In diesen Formulierungen erscheint der Nationalstaat als durchaus nachgeordnete "Selbstverwaltungseinheit" mit schätzenswerten kulturellen Traditionen, in die sich die Bürger eingewöhnt haben. Man ist erinnert an die Rolle, die Gemeinden in den modernen Staaten spielen: die eigentlichen Strukturierungen des Lebens erfolgen an anderer Stelle, aber die örtliche Anpassung an diese Strukturen wird mit beschränkten Mitteln den Gemeindebürgern überlassen. Eine solche Sicht verkennt die Rolle der Nationalstaaten gerade für die Legitimation der EU. Sie schaffen die Einheiten, aus denen eine europäische Union entsteht. Wenn die EU ein "Vielvölkerstaat" ist, dann ergibt sich daraus, dass die Interessen der Bürger der Union nicht gleich sind und über sie nicht in hochaggregierten Repräsentationssystemen mit Mehrheit entschieden werden kann. Die einzelnen Völker repräsentieren nicht nur pittoreske Traditionen, sie konstituieren in sich demokratische "demoi" mit einem allgemeinen Herrschaftsanspruch. Diese Einheiten haben eine Absorptionskraft für die Bewältigung sozialer Konflikte, die für die EU unverzichtbar ist. Diese Absorptionskraft liegt insbesondere in der Fähigkeit der Nationalstaaten, über die immer bestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Verteilung der Lebenschancen Einverständnisse auf Zeit zu paktieren und Vorstellungen über eine ausgleichende Gerechtigkeit zu formulieren. Daraus entsteht bei materieller Ungleichheit eine ideelle Gleichheit der Staatsbürger. Das demokratische Ideal der staatsbürgerlichen Gleichheit muss mit der Alltagserfahrung der Ungleichheit vermittelt werden. Aus dieser Selbstpaktierung der Ungleichheit erwächst die moralische Solidarität. Diese beständige Reproduktion der "moral fabric" ist die Basis des sozialen Friedens. Wo immer sie ge- oder zerstört wird, treten schwere Konflikte auf, wobei man nicht nur an Bosnien und das Kosovo denken muss, es reichen die Erfahrungen mit Nordirland und dem Baskenland. Jahrzehntelanger Terrorismus lässt sich politisch nicht beherrschen, auch nicht in Ländern, die seit Jahren demokratische Systeme haben und zur EU gehören. Die zentrale Leistung der Nationalstaaten ist die Herstellung moralischer Ordnungen, die nicht nur da Ergebnis von politischen Institutionen sind, sondern der Stützung einer Sprachgemeinschaft, der Binnentoleranz und Solidarität und der Selbstzurechnung von Verantwortung für Mängel und Entwicklungsrückstände bedürfen. Die Abstufung der Nationalstaaten, die Begrenzung ihrer Handlungsmöglichkeiten und die Fragmentierung ihrer formalen Kompetenzen haben erhebliche Konsequenzen gerade für ein territorial ausgedehntes Herrschaftsgebiet mit hochaggregierten Interessenvertretungen in den Entscheidungszentren.

Nationalstaaten formen auch die Zurechnungseinheiten, von denen Leistungen erwartet werden. Ein gutes Beispiel bietet die Veränderung des Sozialsystems bei der Bevölkerung Ostdeutschlands. Erwartungshorizont und Vergleichsmaßstab haben sich mit der deutschen Einheit von der DDR auf die alte Bundesrepublik verschoben, und damit ist eine neue Wahrnehmung der Diskriminierung oder der Benachteiligung bei den Ostdeutschen eingetreten. Nicht die objektive Verbesserung der Lebenslage in Ostdeutschland, sonder die Differenzen zur Lebenslage der Westdeutschen bestimmt deren Erwartungshaltung. Vergleichsprozesse und ihre Strukturierung durch sozialmoralische Einheiten, wie sie die Nationalstaaten darstellen, sind daher von zentraler Bedeutung für die Stabilität in Europa. Die Portugiesen, zum Beispiel, haben ihre Erwartungen nach dem Beitritt zur EU nicht sofort auf die Standards der wohlhabenden Wohlfahrtsstaaten gerichtet und von diesen eine entsprechende Alimentierung erwartet.

Die Osterweiterung öffnet den Weg nach Europa für viele Gesellschaften, die auf einem viel niedrigeren Niveau leben als die Völker in Westeuropa. Sie müssen sich auf Jahrzehnte hinaus auf ein starkes Gefälle einrichten. Diese Akzeptanz der Benachteiligung kann nur innerhalb eines nationalen Selbstverständnisses erfolgen. Diese Prozesse können nur im Rahmen von nationalstaatlich strukturierten Vergleichs- und Verteilungsprozessen durchgeführt werden. Die Europäische Union ist ein Vielvölkerverband, dessen Bestandteile einen von ihrer Bevölkerungszahl und von ihrer Wirtschaftskraft unabhängigen eigenen Gestaltungsraum beanspruchen und die sich nicht für alle zentralen Entscheidungen Mehrheiten anderer unterwerfen können. Die EU ist bisher vom Konsens der nationalen Eliten getragen worden. Überall dort, wo dieser nicht bestand, haben sich auch bei den Völkern Widerstände oder Vorbehalte gegen weitere Integrationsschritte ergeben, so in Norwegen, Schweden und Dänemark. Dieser Elitenkonsens entsteht im politischen Milieu der Nationalstaaten aus der Meinungsbildung der demokratischen Institutionen, den Medien, der öffentlichen Meinung und der daraus sich einstellenden Orientierung der Bürger. Die Legitimität der EU ruht daher auf dem Einverständnis der Bürger der Nationalstaaten, nicht auf der Meinungsbildung eines europäischen Volkes. Auch das Europäische Parlament repräsentiert die Bürger der Mitgliedstaaten, nicht die Bürger der Union. Auch seine Basis ist die nationale Meinungsbildung. Sie ist grundlegend für die Legitimierung der europäischen Integration; die Nationalstaaten sind dafür die Basis. Diese Abstufung, ihnen die zentralen Souveränitätsrechte über die weitere Entwicklung der Union zu beschneiden, gefährdet den politischen und sozialen Frieden der Union.


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