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4. Governance und wissenschaftliche Politik

Die Schwierigkeiten der Kommission mit der von ihr gewählten Diskursform lassen sich auch aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive beschreiben.

Das Weißbuch definiert sein Thema - Governance - als ,,Regeln, Verfahren und Verhaltensweisen, die die Art und Weise, wie auf europäischer Ebene Befugnisse ausgeübt werden, kennzeichnen, und zwar insbesondere in bezug auf Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, Wirksamkeit und Kohärenz." (10, Anm. 1). Die Grenzen dieser Definition bleiben jedoch das gesamte Weißbuch hindurch undeutlich. Grundsätzlich erscheint der Begriff der Governance seiner fehlenden Trennschärfe wegen kein ideales Instrumentarium zur Beschreibung von Mehr-Ebenen-Systemen anzubieten. Die unterschiedslose Einbeziehung verschiedener Ebenen, privater und hoheitlicher Akteure sowie normativer und deskriptiver Gesichtspunkte steht einer Ausdifferenzierung von Problemen eher entgegen. Symptomatisch für diese Begriffsunklarheit ist die Feststellung des Weißbuchs, daß auch die Zivilgesellschaft die Grundsätze guten Regierens beachten müsse (20) - eine Aussage, die ein kaum absehbares Potential an Freiheitsbeschränkungen enthält und eine Maßstabsgleichheit für privates und hoheitliches Handeln unterstellt, die liberalen politischen Systemen grundsätzlich fremd ist. Gerade die Unbestimmtheit des Governance-Begriffs provoziert zudem die Frage, ob das Konzept tatsächlich die Betrachtung materieller Politiken ausschließen sollte, wie es im Weißbuch geschieht. Kann man über etwas so Ganzheitliches wie die Governance der EU schreiben, ohne sich mit der Art ihrer Aufgaben zu beschäftigen?

Hinter den Ausführungen des Weißbuchs scheint die Vorstellung einer allgemeinen Lehre von der ,,Guten Regierung" zu stehen, die sich aus der bestimmten Prinzipien wie von selbst ergeben kann. Unabhängig sowohl vom Stand der wissenschaftlichen Demokratietheorie wie auch der politischen Konstellationen in der Gemeinschaft greift das Weißbuch auf die Figur des ,,guten Regierens" zurück, wie sie in den Sieneser Fresken Lorenzettis ihre berühmteste Darstellung fand12. Die Vorstellung des ,,guten Regierens" aber ist vormodern. Sie passt auf eine vor der Ausdifferenzierung einer politischen Sphäre bestehende Obrigkeit, deren verfahrenstechnisch nicht eingeschränkte Machtfülle zumindest an gewisse elementare Gerechtigkeitsprinzipien gebunden werden muß. Auf die Vermittlung verschiedenartiger demokratischer Prozesse, wie sie durch die Integration zu leisten ist, passt das Konzept dagegen schwerlich. Die Errungenschaft liberaler Verfassungsstaaten besteht gerade darin, die Frage nach der richtigen Ordnung verfahrensmäßig aufzulösen. Die Bindung an Prinzipien wird durch die Bindung an Entscheidungsverfahren ersetzt. Wenig spricht dafür, daß diese Errungenschaft durch die Integration überholt worden wäre. Die Formel vom ,,guten Regieren" fällt dennoch dahinter zurück.

Kern der normativen Argumentation des Weißbuchs ist das Bekenntnis zu bestimmten Prinzipien. Doch gibt das Weißbuch keine Antwort auf die Frage, warum gerade diese und nicht auch andere Werte in die Darstellung einbezogen wurden, obwohl viele der Annahmen des Weißbuchs, wie etwa die segensreiche Wirkung elektronischer Medien für den politischen Prozeß, sehr umstritten sind13.

Auch ohne schlüssige Herleitung könnten die Prinzipien des Weißbuchs einen eigenen Beschreibungswert nur entwickeln, wenn sie mit konkreten Gegenkonzepten konfrontiert würden. Niemand will eine unkohärente, untransparente oder gar schlechte Form des Regierens; aber eben, weil niemand dies will, ist nichts damit gesagt, wenn man für eine kohärente, transparente oder gar gute Ordnung eintritt.


12 H. Hofmann, Bilder des Friedens oder Die Vergessene Gerechtigkeit, 1997.

13 H. Buchstein, Bytes that Bite. Internet and Deliberative Democracy, Constellations 4 (1997), 248-263.

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